Popmusik begeistert, blickt in der Echokammer der Gegenwart zurück in die Zeit der großen Versprechen, die schon damals unerfüllt im Hallraum der Toms und den monotonen Basslinen im Disconebelnirvana verschwanden. Versprechen auch einer Befreiung, die in einem ideologiekritischen Sinne vielleicht immer schon hohl waren, heute jedoch ferner scheinen denn je. Folgerichtig nennen Klez.e ihr viertes Album „Desintegration“ , Auflösung, Zerfall. Womöglich kein Zufall. Eine Rezension.
Vor nun mehr sieben Jahren gaben sie uns das „Feuer der Gaben“ , dann wurde es still. Aber sie sind nicht komplett zu Asche zerstaubt. Ein bisschen Glut leuchtete still und heimlich im Dunkel der Vergangenheit vor sich hin, bis sich Tobias Siebert (u.a. Produzent für Enno Bunger, Slut, Me And My Drummer und mit seinem Soloprojekt And The Golden Choir erfolgreich unterwegs) und seine Band Klez.e vor etwa einem Jahr dazu entschlossen, das alte, ewige Feuer neu zu entfachen. Entstanden ist gleich ein ganzes Album, das seine Reise im Jahr 1989 beginnt und seine Hörer im Hier und Jetzt wieder ausspuckt.
Aha, es gibt sie also doch noch, die Emotionen im deutschen Pop. Die Melodien und die Zeilen, die etwas in einem auslösen, ganz tief, und die man nicht nur mal eben nebenher laufen lässt, weil sie einfach mehr sind. Klez.e waren auch damals für krasse und ehrliche Worte bekannt, jedoch eher nicht politisch. Heute beginnt sofort mit dem ersten Track „Mauern“ ein Weckruf, ein Zurückversetzen in jene Zeit in 1989 als am 9. November die Mauer fiel – und mit Blick auf den Albumtitel „Desintegration“ auch ein musikalisches Zurück: The Cure veröffentlichen ihr achtes Studioalbum „Disintegration“ im selben Jahr. Nach einer kleinen Geschichtsstunde also zurück in die Gegenwart (in der Tobias Sieberts ein klitzekleinesbisschen aussieht wie die von Robert Smith): Klez.e singen über das Suchen, über das Finden, über die Welt, über Depressionen und über gefühlt überhaupt Alles, was sie in irgendeiner Form bewegt: „so häng ich mich/ auf wie ein Tuch im Wind von dir abgelegt/ so tropft mein Herz ins Feuer für dich/ und Welle für Welle für Welle zerbreche ich neu an mir/ so suche ich etwas das zündet für mich“ . Die Gesangsstimme Sieberts klingt dabei resigniert, aufrüttelnd, traurig, aufmunternd, kaputt, aufwirbelnd und hoffungsvoll-hoffnungslos zugleich. Eine „Nachtfahrt“ durch das dunkle(re) Deutschland.
Zwischenzeitlich gelingt immer eine Überraschung, so münden Zeilen wie „dein Ziel Staat was du verlangst/ deine Flucht vor der Angst/ und meine vor deinen Lügen“ plötzlich in die Melodie zu „Love Story“ , die jeder kennt und die als Schicksalsmelodie aufzufassen ist. „Desintegration“ berührt, ausnahmslos! Die Texte wird man sicherlich mitsingen, aber höchstwahrscheinlich niemals, ohne darüber nachzudenken – die poetisch-deutliche Aussprache Sieberts allein wird dafür sorgen, dass die Worte und Sätze nicht einfach so ausgesprochen, sondern beachtet werden; die instrumentalen Momente zwischen den Strophen bieten eine Möglichkeit zur Pause, zum Innehalten, zum Nachdenken. Politischer könnten die Texte nicht aktueller sein, so beschreibt der Titel „November“ etwa („fühle ich Wut/ aus Prinzip?/ weil alles immer eh auf dich zielt?/ meinen Bereich/ den du lenkst/ wenn du Geschichte aus dir sprengst“ […] „es ist spät/ die Welt in Wehen/ im November 2015/ so chronisch/ so akut/ so viele Jahre voller Blut“) die Flüchtlingsproblematik, die seit spätestens Ende 2015 ein extremes Thema in Deutschland ist – mit Blick auf die Vorgeschichte der Nazizeit und den andauernden Terror weltweit.
Jedes einzelne Lied beansprucht ein krasses, diskutierwürdiges Thema für sich, sodass man leicht schwermütig wird, wenn man Klez.e auf ihrer „Desintegration“ lauscht – Antidepressiva wird irgendwie greifbar und doch möchte man anschließend nur auf eine bessere Welt, in jeder Hinsicht, hoffen, und den ersten Schritt wagen – sich jemanden zur Seite holen und über das Gehörte sprechen. Diskutieren. Besser machen. Nachdenken. Sprechen und kennenlernen. „Desintegration“ rüttelt wach, wehmütig, wohlwollend. Gerade deshalb ist es ein Album, das am 13. Januar gerade richtig erscheint. (Einerseits, weil es an das Blutbad vor dem Reichstag 1920 erinnert und somit den historischen Aspekt einbringt; andererseits, weil es sofort zu Jahresbeginn auf den Markt kommt und Hoffnung auf Veränderung schenkt.) Klez.es Worte sitzen tief, „Desintegration“ lässt Dich so schnell nicht mehr los. Ganz groß, muss rumerzählt werden!
“Desintegration“ von Klez.e | VÖ 13.01.2017 | als Download, CD oder Vinyl!